In meiner Fach- und Rechtsaufsichtsbeschwerde zur Duldung des Gehwegparkens in Pirmasens hatte ich unter anderem auf das Urteil 3 K 272/18.NW des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 20. Mai 2019 verwiesen. Ein Anwohner wehrte sich gegen die Weigerung der zuständigen Behörde, in einer recht schmalen Straße mit nur sehr schmalen Gehwegen in Bad Dürkheim eine Einbahnstraßen-Regelung, vor allem zum Schutz der Fußgänger anzuordnen. Das Gericht erkannte einen eindeutigen Ermessensfehlgebrauch; auch deshalb, weil die Behörde im Widerspruchsbescheid den Fußgängern eine besondere Aufmerksamkeit abverlangte, da „im Begegnungsverkehr der Fußweg in Anspruch genommen werden müsse.“ Diese Argumentation wurde im Antrag auf Ablehnung der Klage noch einmal wiederholt.
Interessanterweise gibt sich das Gericht (dem „Datenschutz“ sei Dank…) im Urteil trotz recht eindeutiger Hinweise dann doch Mühe, die Straßennamen nicht zu benennen. Es erfordert aber keine besonders ausgeprägten Fähigkeiten im Kartenlesen, um selber zum Schluss zu kommen, dass es sich hier eigentlich nur um die Kaiserslauterer Straße handeln kann. 😉 Jene ist auch bei mapillary zu finden; drei Tage vor dem Urteil aufgenommen – und daher noch ohne Einbahnstraßen-Regelung (mit nebenbei ganz „interessanter“ Pflasterbemalung neben dem Kreisel). Das Gericht beschreibt in Randnummer 4 den betreffenden Straßenabschnitt:
Die K. Straße zwischen der Einmündung G. Straße/E. Straße und der Bundesstraße 37 hat eine Länge von etwa 290 m. Nach der Umgestaltung mit dem Ziel in der Regel eine nutzbare Fahrbahnbreite von 5 Meter Breite dem fließenden Verkehr zur Verfügung zu stellen, weist die Fahrbahn unterschiedliche Breiten im Verlauf auf. Die Fahrbahn ist auf einem Teilstück an der engsten Stelle zwischen den Anwesen K. Straße … auf einer Länge von etwa 18 Meter ohne die beidseitig angebrachte Rinne 3,20 Meter breit. Im weiteren Verlauf beträgt die Fahrbahnbreite zwischen 3,90 Meter und 5,10 Meter. Im westlichen Übergangsbereich zur Anbindung der K. Straße an die B 37 wurde eine bewusste Verengung der Fahrbahnbreite auf 3,40 Meter zwischen den Rinnen hergestellt, damit der Begegnungsverkehr an dieser Stelle nur unter gegenseitiger Rücksichtnahme durchfahren kann und den Fahrzeugführern in Fahrtrichtung Innenstadt signalisiert wird, dass die Annäherung an einen beengten Verkehrsbereich erfolgt. Unter Einbeziehung der beidseitig vorhandenen Gehwege (zwischen ca. 0,5 Meter und 2 Meter) ist die Straße zwischen 6,60 Meter und 11,60 Meter breit.
Vorgeschichte
Wie die Aufnahmen bei mapillary zeigen, wurde die Straße in der Tat erst vor nicht allzu langer Zeit umgestaltet. Hierbei entschied man sich eben trotz beengter Verhältnisse jedoch (einmal mehr) dazu, die Fahrbahn möglichst breit und die Gehwege möglichst schmal anzulegen. Bereits hiergegen hatte der Kläger Einwände erhoben, die jedoch nicht berücksichtigt wurden; siehe auch Randnummer 5:
Der Kläger war mit der Umgestaltungsmaßnahme nicht einverstanden und wandte sich mit mehreren Eingaben an die Beklagte. Mit Schreiben vom 9. Dezember 2015 teilte die Beklagte ihm mit, dass die Frage einer Einbahnregelung erst nach Inbetriebnahme der Straße im Rahmen der Fortschreibung des Verkehrskonzeptes überprüft werden solle. Sollten sich Defizite in der Verkehrslenkung, Fußgängersicherheit oder Barrierefreiheit zeigen, würden entsprechende Gegenmaßnahmen auf den Prüfstand kommen.
Eine Feststellungsklage mit Eilrechtsschutz, vor allem auch bauliche Maßnahmen betreffend, wurde vom VG Neustadt zurückgewiesen bzw. von beiden Seiten für erledigt erklärt (VG Neustadt, 4 K 1094/16.NW); unter der Voraussetzung, dass die Behörde über den Antrag des Klägers bis zum 1. Juli 2017 förmlich entscheidet (Rn. 9).
Die zuständige Behörde lehnte im Bescheid vom 26. Juni 2017 auch unter Verweis auf die Folgewirkungen des Ausweichverkehrs in anderen Straßen ein Tätigwerden im Sinne des Klägers, also die Anordnung einer Einbahnstraßen-Regelung, ab (Rn. 11).
Es folgte am 19. Juli 2017 ein Widerspruch des Klägers, der am 5. Februar 2018 vom Kreisrechtsausschuss abgewiesen wurde. Darin (Rn. 13) heißt es unter anderem:
Es werde anerkannt, dass die Situation in der K. Straße für die schwächeren Verkehrsteilnehmer nicht unproblematisch sei. Da die Bebauung der K. Straße historisch gewachsen sei, sei die Beklagte gezwungen gewesen, sich bei der Neugestaltung der Straße an den vorhandenen Gebäuden zu orientieren. Deshalb habe zulässigerweise ausnahmsweise von den in den Richtlinien für die Anlagen von Stadtstraßen empfohlenen Breiten abgewichen werden dürfen. (…) Die festen Stellplatzanordnungen seien eingerichtet worden, um die Fahrgeschwindigkeiten zu minimieren. Die Verkehrsteilnehmer müssten in der K. Straße aufgrund der besonderen Verkehrssituation besondere Rücksicht aufeinander nehmen. Auch Fußgänger kämen ohne ständige Aufmerksamkeit nicht aus. Dies gelte insbesondere auch für den Fall, dass im Begegnungsverkehr der Fußweg in Anspruch genommen werden müsse. (…)
Er könne nicht nur, nein – er müsse in Anspruch genommen werden! Nun kenne ich ja als alter Pirmasenser nichts anderes als dieses „pragmatische“ Gewohnheitsrecht. Dass eine Straßenverkehrsbehörde aber ernsthaft vor einem Verwaltungsgericht damit argumentiert, dass der § 2 (1) StVO nicht mehr gelte, wenn zwei Autofahrer auf einer zu schmalen Fahrbahn aneinander vorbeifahren wollen, ist ein prima Beispiel für die autozentrierte Denkweise von autofahrenden Beamten in Straßenverkehrsbehörden.
Der Kläger erhob hiergegen dann am 5. März 2018 Klage vorm Verwaltungsgericht in Neustadt. Die Straßenverkehrsbehörde war sich (wie bereits angedeutet) nicht zu Schade, in ihrem Antrag auf Ablehnung der Klage u. a. folgendermaßen zu argumentieren (Rn. 23):
Es werde eingeräumt, dass die vom Kläger eingereichten Filmaufnahmen sicherlich keine wünschenswerten, aber auch keine untypischen Verkehrssituationen in innerstädtischen beengten Bereichen zeigen würden. Stehe eine ausreichende Fahrbreite in der K. Straße im Begegnungsverkehr nicht zur Verfügung, müssten an diesen Stellen die Gehwege durch den fahrenden Verkehr teilweise mitbenutzt werden. Dies treffe auch für viele weitere Straßen des Innenstadtbereichs zu. (…)
In Bad Dürkheim herrscht also eindeutig das Recht des Stärkeren…!?
Das Urteil
Insbesondere die wissentliche und einkalkulierte Duldung des (fahrenden!) Ausweichverkehrs auf Gehwegen war den Richtern des Verwaltungsgerichts dann doch zu viel des Guten – und der wesentliche Grund dafür, dass die Behörde dazu verurteilt wurde, ihr Ermessen neu und fehlerfrei auszuüben.
Das Gericht erkennt in Rn. 31 das Vorliegen einer besonderen örtlichen Gefahrenlage:
Vorliegend ist entgegen der Ansicht der Beklagten im betreffenden Teilabschnitt der K. Straße eine auf den örtlichen Verhältnissen beruhende erhebliche qualifizierte Gefahrenlage im Sinne von § 45 Abs. 1, 1b Nr. 3 und Nr. 4 i.V.m. Abs. 9 StVO gegeben, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung von Leib und Leben der Straßenverkehrsteilnehmer, insbesondere der Fußgänger, in einem erheblichen Maße übersteigt. Diese erhebliche qualifizierte Gefahrenlage ergibt sich sowohl aus der Verkehrsdichte und der Streckenführung als auch aus dem Ausbauzustand der Straße.
Ein Tätigwerden der Behörde ist also rechtlich auf jeden Fall angebracht. Das Gericht stellt in diesem Fall sogar eine „Ermessensreduktion auf Null“ fest; Rn. 39:
Aufgrund der erheblichen qualifizierten Gefahrenlage im betreffenden Teilabschnitt der K. Straße, insbesondere für Fußgänger, ist das Entschließungsermessen der Beklagten auf Null reduziert. Nach § 45 Abs. 1, Abs. 1b Nr. 3 und Nr. 4 i.V.m. Abs. 9 StVO hat sie geeignete Maßnahmen zur tatsächlichen Beruhigung des fließenden Verkehrs und zur Sicherheit der Verkehrsteilnehmer zu treffen. (…)
Das Gericht zählt beispielhaft mehrere Möglichkeiten auf, was die Behörde dort veranlassen könnte, um dieser Gefahrenlage beizukommen. Das Gericht muss in Rn. 41 der Behörde allerdings auch noch einmal dezidiert die Basis-Grundlagen der StVO erklären:
Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 StVO müssen Fahrzeuge die Fahrbahn benutzen. Kein Bestandteil der Fahrbahn sind die Seitenstreifen, die auch Gehwege beinhalten, § 2 Abs. 1 Satz 2 StVO. Eine Ausnahme von diesem Verbot für Fahrzeuge auf Gehwegen zu fahren, ist im Begegnungsverkehr nicht anerkannt. Ein Fußgänger muss auf einem Gehweg nicht mit Gefährdungen durch Fahrzeuge rechnen (vgl. Hentschel König/Dauer, 44. Aufl. 2017, § 2 StVO, Rn. 29). Dies hat auch der Verordnungsgeber in der Begründung zur Einführung des Begriffs des „Seitenstreifen“ in § 2 Abs. 1 Satz 2 StVO ausdrücklich klargestellt, indem er in den Gesetzesmaterialien ausgeführt hat, dass bewusst der Begriff „Seitenstreifen“ in die gesetzliche Regelung aufgenommen worden sei, um klarzustellen, dass die Norm nicht nur die Benutzung der Gehwege durch Fahrzeuge, sondern auch die Benutzung der (sonstigen) Seitenstreifen verbiete. Weiter heißt es, dass damit die Meinung eines Oberlandesgerichtes abgelehnt werde, dass ein Kraftfahrer in die Erwägung über die angesichts der Sichtweise zulässigen Geschwindigkeit auch die Möglichkeit einbeziehen dürfe, notfalls den Seitenstreifen zur Verfügung zu haben (s. BR-Drs. 420/70, S. 51).
Dies gelte auch in „historisch gewachsenen Straßen“; Rn. 42:
Die Straßenverkehrsordnung kennt keine Ausnahmen vom Verbot des § 2 Abs. 1 StVO für Begegnungsverkehr in engen, historisch gewachsenen Straßen. Als Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot in § 2 Abs. 1 StVO ist lediglich ein Überfahren eines Gehweges, um in eine Einfahrt zu fahren (vgl. § 10 StVO) oder ein Mitnutzen eines Gehweges zum Parken (vgl. § 12 StVO) anerkannt. (…) Gemäß §§ 6, 1 i. V. m. § 2 Abs. 1 StVO darf eine Begegnung im fahrenden Verkehr in zügiger Fahrt auf der Fahrbahn nur durchgeführt werden, wenn zwischen den sich begegnenden Fahrzeugen unter Berücksichtigung des notwendigen Abstandes zum rechten Fahrbahnrand ein Sicherheitsabstand von mindestens 1 Meter eingehalten werden kann. Kann dieser Sicherheitsabstand nicht eingehalten werden, muss das Fehlen durch besonders vorsichtige Durchführung der Begegnung und Herabsetzung der beiderseitigen Fahrgeschwindigkeit ausgeglichen werden. Reicht auch dies nicht aus, so haben beide Fahrzeugführer anzuhalten und sich darüber zu verständigen, welcher von ihnen am stehenden Fahrzeug des anderen in langsamer Fahrt vorbeifährt. Reicht die Fahrbahnbreite zu einer Vorbeifahrt überhaupt nicht aus, müssen sich die Beteiligten darüber verständigen, wer von ihnen zu einer Ausweichstelle zurückfährt (…). Gehwege dürfen auch an Engstellen im Begegnungsverkehr nicht befahren werden, § 2 Abs. 1 Satz 2 StVO. Verstöße gegen dieses Verbot in § 2 Abs. 1 Satz 2 StVO sind bußgeldbewehrt, § 49 Abs. 1 Nr. 2 Ordnungswidrigkeitengesetz – OWiG – i.V.m. § 24 Straßenverkehrsgesetz – StVG –.
Tja. Das nennt man wohl eine ordentliche Backpfeife! Den letzten Satz müsste man allerdings nicht nur der Stadtverwaltung Pirmasens, sondern auch der ADD wohl noch einmal explizit, dick und fett ins Poesiealbum schreiben. Weil man ja logischerweise auf einen Gehweg erst auffahren muss, um auf jenem zu parken.
Laut Auskunft der Stadtverwaltung Bad Dürkheim wurde immerhin der Radverkehr beachtet – denn jener war von diesem Urteil ja nicht betroffen – und darf diese Straße auch weiterhin in beiden Richtungen benutzen:
in vorbezeichneter Straße wurde in Fahrtrichtung Römerstraße Einbahnverkehr angeordnet.
Radverkehr ist im Gegenverkehr freigegeben.
Mal überlegen, ob ich in Pirmasens nicht auch ein paar Straßen als Kandidaten finde, um der Stadtverwaltung das Thema Einbahnstraßenfreigaben auf eine andere Art und Weise aufzunötigen?
Boah, toll!
Im Artikel von Fuss e.V. ist dann gleich noch eine Leistungsschau des vorausschauenden und rücksichtsvollen Fahrens von gewerbsmäßigen bzw. berufsmäßigen Kraftfahrzeugführenden dokumentiert.
Macht die Bordsteine höher!
Welche Bordsteine…!? ? 😉 Diese neumodischen „Rinnen“ kann man durchaus so betrachten, dass da das permanente Überfahren eben auch schon baulich mit einkalkuliert ist.
„Barrierefrei“ eben, zumindest für Autos. Nicht dass man sich noch den Reifen quetscht beim Überfahren des Bordsteins.